Für die meisten Organisationen dieser Welt sind Krisen klar erkennbar, und sie werden überwunden oder führen zum Scheitern der Organisation. Das deutsche Wissenschaftssystem ist in einer solchen Krise, scheint es jedoch nicht zu merken. Es ist eine Krise des verschwendeten Potenzials, eine Krise, die auf Kosten derjenigen ausgetragen wird, die das System tragen. Die Wissenschaft in Deutschland erscheint nach außen kontinuierlich und verlässlich, aber hinter dieser Fassade sind die Probleme gravierend. So leiden etwa Promovierende überproportional häufig an depressiven Symptomen (unsere Studien: Leibniz, Helmholtz und Max-Planck). Diese Promovierenden sind das unbestrittene Rückgrat des deutschen Wissenschaftssystems. Auch bilden sie zusammen mit den Postdocs die Mehrheit des wissenschaftlichen Personals. Trotzdem werden ihre Bedürfnisse, Sorgen und Ängste vergleichsweise wenig bei der Gestaltung der Strukturen und Organisationskultur in der Wissenschaft berücksichtigt. So bleibt viel Potenzial ungenutzt.
Wie produktiv könnte unsere Forschung sein, wenn das System seinem wissenschaftlichen Personal ein angemessenes Arbeitsumfeld bieten würde? Wie viel Potenzial könnte dann ausgeschöpft werden?
Wissenschaft ist in erster Linie harte Denkarbeit. Doch insbesondere das Denken wird negativ von Unsicherheit und Zukunftsängsten beeinflusst. Die Arbeitsverhältnisse der Promovierenden und Postdocs werden heutzutage überwiegend nach dem WissZeitVG geregelt -einem Gesetz, das die Rahmenbedingung für die Befristung der Arbeitsverhältnisse von Wissenschaftlern gestalten soll. 2016 wurde dieses Gesetz novelliert und heute wurde die Evaluation dieser Novelle publiziert (Evaluationsbericht). Die primäre Begründung für die Befristung im WissZeitVG ist die “Qualifikation”, ein Begriff der jedoch juristisch nicht näher definiert ist. Das ist auch schon das Kernproblem dieses Gesetzes. Die meisten Einrichtungen (56.8%) haben keinerlei Leitlinien für Qualifizierungsziele entwickelt (Abb. 10 des Evaluationsberichts). Dass die Promotion eine Qualifikationsphase ist, halten wir für unbestreitbar. Doch schon in der Postdoc-Phase ist dies schwieriger zu definieren. In den meisten Fällen wird darum auf die Habilitation als Begründung zurückgegriffen (56%, Tab. 13 des Evaluationsberichts). In Anbetracht der Tatsache, dass die wenigsten von ihnen eine Professur erhalten können (max. 3% der Postdocs), erscheint dies jedoch absurd.
Das primäre Ziel der Novellierung des WissZeitVG 2016 war es “unsachgemäße Kurzbefristungen” zu unterbinden und verlässliche Rahmenbedingungen für die Befristungen von Arbeitsverträgen zu schaffen. Dieses Ziel wurde leider nicht erreicht. Nach einer kurzfristigen Verlängerung der mittleren effektiven Vertragslaufzeiten (durchschnittlichen Vertragslaufzeiten) von 2015 bis 2017, sind diese von 2017 bis 2020 auf den Vornovellierungs-Zustand zurückgefallen. Im Fall des promovierten Personals der AuF (Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen) und HAW (Hochschule für angewandte Wissenschaften), sind im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 die mittleren eff. Vertragslaufzeiten sogar zurückgegangen (Abb. 1). Die vereinbarten Vertragslaufzeiten sind auch für die Promovierenden nicht angemessen. Die mittleren effektiven Laufzeiten liegen Organisationsübergreifend bei etwa 20 Monaten, wobei die Durchschnittliche Dauer einer Promotion in Deutschland 4.7 Jahre, also 55 Monate, beträgt (Buwin; Abb. B46). Insgesamt zeigt diese Evaluation, dass die unsachgemäße Befristungsdauer von Arbeitsverträgen nach wie vor die Norm in der Wissenschaft ist.

Projektlaufzeiten von Drittmittelprojekten sind im Allgemeinen wesentlich länger als die entsprechenden Arbeitsverträge (Abb. 58 des Evaluationsberichts). Damit gehen die Arbeitgeber nicht ihrer Verpflichtung nach, die ihnen nach WissZeitVG §2 Absatz 2 auferlegt wird, denn dort heißt es, die “[…] vereinbarte Befristungsdauer soll dem bewilligten Projektzeitraum entsprechen”.
Diese schlecht planbaren und unsicheren Arbeitsbedingungen führen zu Zukunftssorgen, Selbstausbeutung und in der Konsequenz zu psychischen Belastungen für Promovierende wie Postdocs. Viele kluge Köpfe verlassen in der Folge die Wissenschaft und nehmen ihre Ideen und Methoden mit. Diese Lücken werden sich bemerkbar machen.
Welches Potential steckt also in unseren wissenschaftlichen Institutionen? Wir wissen es nicht! Für gute Forschung müssen gute Grundlagen geschaffen werden. Im Anbetracht der Schwierigkeiten, die uns im 21sten Jahrhundert beschäftigen werden und schon jetzt beschäftigen, brauchen wir den bestmöglichen wissenschaftlichen Apparat. Dieser fängt beim wissenschaftlichen Personal und dessen Arbeitsbedingungen an.
Mitautor: Jacob L. Gorenflos López (FMP Berlin, Mitglied im Beirat der WissZeitVG Evaluation)
